Journalist André Uzulis spricht vor der Reservistenkameradschaft Wingst
Wingst. „Von Armenien werden wir in der nächsten Zeit noch hören.“ So lautete der Ausblick, den der Journalist und sicherheitspolitische Experte André Uzulis nach einem Vortrag vor der Reservistenkameradschaft Wingst zur Lage im Südkaukasus gab.
Uzulis ist Chefredakteur der Zeitschrift „loyal“, dem größten deutschsprachigen Magazin für Sicherheitspolitik und zugleich Mitgliederzeitschrift des Reservistenverbands. Von 1998 bis 2002 war der gebürtige Hannoveraner stellvertretender Chefredakteur der Nordsee-Zeitung in Bremerhaven und kennt sich daher auch in unserer Region aus.
Uzulis hatte Armenien im Frühjahr für eine Titelgeschichte in „loyal“ intensiv bereist. Er berichtete den Wingster Reservisten nicht nur zur sicherheitspolitischen Lage im Südkaukasus, sondern auch darüber, wie eine solche Reise redaktionell geplant wird, wie er zu seinen Gesprächspartnern kommt und vor welchen Schwierigkeiten ein deutscher Journalist gelegentlich steht, wenn er über die Sicherheitslage und das Militär in anderen Ländern schreiben will.
So war es in Armenien nicht möglich, Stützpunkte der Armee zu besuchen oder den Verteidigungsminister zu interviewen – bei Recherchereisen von „loyal“ in andere Länder sind das Standardtermine. „Offensichtlich ist die armenische Armee gegenüber dem Erzfeind Aserbaidschan derart in der Defensive, dass sie sich keine Blöße geben will“, erklärte sich Uzulis die Zurückhaltung. Immerhin hat Armenien in den vergangenen 35 Jahren gegen Aserbaidschan insgesamt fünf Kriege geführt. Die letzten beiden gingen verloren: 2020 besiegte Aserbaidschan den Nachbarn fast ausschließlich mittels Drohnen – es war der erste Krieg der Geschichte, der durch Drohnen entschieden wurde. Und 2023 eroberte Aserbaidschan das armenisch besiedelte Gebiet Bergkarabach und vertrieb rund 100.000 Armenier. Seitdem herrsche ein „kalter Frieden“ im Südkaukasus, so Uzulis.
Immerhin konnte der Journalist, der sich mit internationalen Krisen und Konflikten aller Art beschäftigt und kürzlich die erste Geschichte des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan veröffentlicht hatte („Der vergebliche Krieg – 20 Jahre Bundeswehr in Afghanistan, Miles-Verlag, 180 Seiten, 24,80 Euro), eine Patrouille der europäischen Beobachtermission in Armenien, EUMA, begleiten. Die EUMA überwacht die rund tausend Kilometer lange Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan. Und er sprach mit Flüchtlingen und Vertretern der Zivilgesellschaft.
Vor den Wingster Reservisten zeichnete er über die Sicherheitspolitik hinaus ein vielfältiges Mosaik von Land und Leuten: Die Armenier sind eines der weltweit ältesten Völker, sie haben eine eigene Schrift und eine eigene Kirche. 1915 erlitten sie den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, als 1,5 Millionen von ihnen im Osmanischen Reich systematisch ermordet wurden. Von den heute insgesamt zehn Millionen Armeniern leben nur drei Millionen in Armenien; sieben Millionen gehören zur weltweiten armenischen Diaspora, die bekannte Namen wie Charles Aznavour, André Agassi oder Kim Kardeshian hervorgebracht hat. In Armenien wurde der Weinbau erfunden. Heute gilt armenischer Wein mit seinen 400 heimischen Sorten als Geheimtipp unter Kennern. Und armenischer Weinbrand war das typische Diplomaten-Getränk in der Sowjetunion. Noch heute wird für das wichtige Exportprodukt ausschließlich armenischer Wein verarbeitet.
Interessierte Zuhörer im Reservistenheim der RK-Wingst und Umgebung
Warum Armenien weiterhin auf der Tagesordnung der internationalen Politik stehen wird, begründete Uzulis so: „Der im vergangenen August unter Vermittlung Donald Trumps in Washington geschlossene Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan mit dem Verzicht Armeniens auf Berg Karabach steht erst einmal nur auf dem Papier. Um ihn in Kraft zu setzen, muss die armenische Verfassung geändert werden. Denn laut Verfassung ist Bergkarabach untrennbarer Bestandteil Armeniens. Ob Ministerpräsident Nikol Paschinjan die Verfassungsänderung gelingen wird, ist vollkommen offen. Im kommenden Jahr wird Armenien gewählt. Dann wissen wir, ob es im Südkaukasus Frieden geben wird – oder nicht.“